Hilfe für IS-Opfer aus dem Nordirak

Baden-Württemberg hat auf Initiative des Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann als einziges Bundesland über ein eigenes Sonderkontingent tausend Frauen und Mädchen aus dem Nordirak aufgenommen, die besonders schutzbedürftig sind. Viele von ihnen sind jesidischen Glaubens und wurden deshalb von den Kämpfern der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) mit brutalsten Methoden verfolgt. Nun sind sie in 22 Kommunen im Land untergebracht, wo sie in Sicherheit leben können und auch therapeutisch begleitet werden.

Was Dr. Michael Blume an diesem Abend zu erzählen hat, berührt jeden der vielen Zuhörer, die sich zur Plenumssitzung des AK Asyl im Gemeindehaus der evangelischen Friedenskirche eingefunden haben. Der Religionswissenschaftler berichtet von verschleppten Frauen, die als Kriegsbeute betrachtet werden, von Massakern an Minderheiten, Kindersoldaten, systematischen Säuberungsaktionen, von Selbstmorden und Zwangsprostitution. Und er zeigt Bilder von Massengräbern im Norden Iraks, von völlig zerstörten und verminten Dörfern in der Region Shingal. „Man kann sich nicht vorstellen, was in dieser Region alles passiert und wie es dort aussieht“, sagt er.  

Zwölf Mal ist der Leiter der Projektgruppe Sonderkontingente des Staatsministeriums in den vergangenen Monaten im Norden Iraks in besonderer Mission unterwegs gewesen. Sein Auftrag: Zusammen mit einem Einsatzteam den Weg bereiten, um letztlich knapp 1100 junge Frauen und Mädchen aus dem Land und damit in Sicherheit vor der brutalen Verfolgung durch IS-Milizen bringen zu können. „Wir hätten auch 5000 Frauen aussuchen können, denen es psychisch und körperlich richtig schlecht geht, die nicht mehr weiter wissen. Die Situation ist wirklich dramatisch“, sagt er und erzählt von einer Jugendlichen, die mehrfach brutal vergewaltigt wurde und sich schließlich aus Verzweiflung in ein Feuer gestürzt hat. Ihre schwersten Verbrennungen werden nun von Spezialisten in Baden-Württemberg behandelt. Dazu wird sie in einer der Kommunen im Land psychisch betreut.  

Knapp tausend Frauen und Mädchen sind seit März vergangenen Jahres überwiegend mit Chartermaschinen aus dem Irak ausgeflogen und in einer von 22 Kommunen im Land untergebracht worden, die sich bereit erklärt haben, Menschen aus dem Sonderkontingent aufzunehmen. Weitere 67 der besonders schutzbedürftigen Frauen und Kinder aus dem Nordirak wurden nach Niedersachen gebracht, das Bundesland Schleswig-Holstein hat 32 aufgenommen. Unter diesen IS-Opfern sind auch Christinnen und Musliminnen, die allermeisten aber sind jesidischen Glaubens. Knapp fünf Millionen Menschen leben in der nordirakischen Provinz, eine Million davon sind Jesiden. „Sie werden wegen ihres Glaubens mit brutalsten Methoden verfolgt und haben in ihrem Land kaum noch eine Zukunft“, betont Dr. Michael Blume. „Es war dringend notwendig, etwas zu tun.“

Angestoßen worden war die baden-württembergische Hilfsaktion nach dem Flüchtlingsgipfel im Oktober 2014, auf dem der Zentralrat der Jesiden sich mit dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann getroffen und ihm die dramatische Situation im Nordirak geschildert hatte. Vom Schicksal der vielen Frauen und Mädchen berührt, hatte Kretschmann Hilfe zugesagt und das Programm „Sonderkontingente für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“ initiiert. „Das ist ein beispielhaftes humanitäres Engagement, das vermutlichen Vielen das Leben gerettet hat“, betont Projektleiter Blume.

Um die Frauen und Mädchen für das Sonderkontingent auszusuchen, waren interkulturelle Einsatzteams mit jeweils sechs Mitarbeitern zusammengestellt worden. Vor Ort habe man zunächst etliche Gespräche mit hohen kurdischen und irakischen Regierungsvertretern geführt, so Blume. Für das Auswahlverfahren hätten verschiedene Hilfseinrichtungen, Organisationen und Kirchen Vorschläge gemacht und Namen für die Kontingentliste genannt. Anschließend seien medizinische und psychologische Untersuchungen durchgeführt worden, für die das Land mit Professor Jan Ilhan Kizilhan von der Dualen Hochschule in Villingen-Schwenningen einen der führenden Experten auf diesem Gebiet gewinnen konnte. Kizilhan ist selbst Sohn einer jesidischen Familie, zudem Psychologe, Psychotherapeut und auch noch promovierter Orientalist. „Für die Auswahl war es wichtig, eine gute Behandlungsperspektive zu sehen, damit auch effektiv geholfen werden kann“, sagt Blume.  

Die Reisen selbst waren stets von hohen Sicherheitsvorkehrungen begleitet, man habe häufig die Unterkünfte und Fahrzeuge gewechselt, bewaffnete Wachposten gehabt und sich in geheimen Auswahlbüros getroffen, erzählt der Religionswissenschaftler, der auch schöne Momente erlebt hat in einem Land, in dem Angst und Schrecken regieren. Zu diesen Momenten zählt insbesondere der Besuch des Baba Scheich in Lalish, dem geistlichen Oberhaupt der Jesiden, der die ausgewählten Frauen und Mädchen vor ihrem Abflug nach Deutschland noch gesegnet hat. „Das war ein sehr wichtiges Zeichen“, sagt Blume.

Im Januar dieses Jahres war die letzte Chartermaschine aus dem Nordirak in Deutschland gelandet, alle 15 Mitarbeiter, die vor Ort im Einsatz waren, sind ebenfalls wieder zurück. Die Erfahrungen, die mit dem humanitären Sonderprogramm gemacht wurden, sollen nun in einem Projekthandbuch verarbeitet werden. „Wir haben viele Anfragen von anderen Bundesländern und auch aus dem Ausland“, sagt Blume, der froh wäre, wenn das Beispiel aus Baden-Württemberg Schule macht: „Wir haben gezeigt, dass es geht.“ (Markus Heffner)